Beatrix Opolka   s p e r r a n g e l w e i t
Städtische Galerie Villa Zanders
Dr. Petra Oelschlägel 

Mit dem ganzen Körper auf dem Weg

Die Konzentration auf die Zeichnung ist für Beatrix Opolka in der Unmittelbarkeit dieses Mediums begründet. Sie schätzt den Bleistift als beiläufiges und selbstverständliches Malmittel, das jedem zugänglich ist, das aber auch als „Grafit auf Grund“ auf eine lange Tradition und große historische Bedeutung zurückblicken kann.

Für sie ist es das Medium par excellence um sichtbar zu machen, wie man sich und dass man sich auf den Weg macht. Wie bei einer Skizze oder einem Architekturentwurf geht es ihr um einen frischen Aufbruch auf einen Weg. In ihrer Leidenschaft und Hingabe an diesen eingeschlagenen Weg ist sie bedingungslos. Mit äußerster Konsequenz ist sie der rhythmisch sich wiederholenden Bewegung verbunden und liefert sich ihr aus.

Für Beatrix Opolka ist die Handlung aus dem Impuls heraus der Anstoß zu ihren einzigartigen riesengroßen Formaten, die sie über Monate an ein Stück Baumwollstoff binden und ihr die immer gleichen Bewegungen abverlangen. 

Gelegentlich arbeitet sie auch ortsbezogen direkt auf die Wand. Für die Ausstellung „Wandelhalle 2 – sperrangelweit“, bei der alle Türen des Ausstellungsbereiches offen stehen, hat die in Berlin lebende Künstlerin zwei Arbeiten mit dem Titel „Ecken und Kanten“ direkt auf die Wand gezeichnet: Sie hat eine äußere und eine innen liegende Raumecke mit Grafik „bearbeitet“, indem sie den Stift mit großer Dynamik von innen nach außen und von außen nach innen gezogen hat, im Arbeitsprozess den Zeichnungen auf Leinwand vergleichbar, doch flüchtiger. Zuvor unsichtbare Unebenheiten der Wand werden – einer Frottage vergleichbar – ans Licht geholt. Wie auch bei den bleibenden Werken auf Tuch geht es auch hierbei um die Aktion das Sichtbar-Machen einer Idee von Bewegung im Raum.

Es ist eine obsessive, aber auch disziplinierte Hingabe an einen Gedanken, eine Bewegung, ein Bild, das dann endlich zu einer vollendeten Arbeit führt. Schnelle Resultate sind genauso wenig möglich wie Korrekturen: ihre Zeichnungen entstehen in einem Kontinuum von Zeit und Raum. Obwohl die Künstlerin den Rhythmus findet und über Stunden, Tage und Wochen beibehält, haftet den Werken etwas Verborgenes an: Es ist nicht nur sture Wiederholung eines Gestus, sondern Konzentration und Verdichtung, die an einem mystischen Punkt zwischen zuviel und zuwenig aufhören. Genau dieses Spannungsmoment lebt in den Arbeiten fort und fesselt den Betrachter.

„Aether, 2004“, eine 10 Meter lange Zeichnung auf Baumwollstoff, ist wohl die unglaublichste ihrer Arbeiten. Hier konterkariert Kunst jeden Aspekt von Ökonomie, denn eine stark verdichtete, nahezu geschlossene Fläche wird üblicherweise nicht durch einzelne feine Striche erstellt. Aus der Distanz wirkt dieses Tuch schwarz, man könnte meinen, es handele sich um eine Kohlezeichnung oder gar ein Aquarell. Doch das Tuch ist bedeckt und durchzogen von Grafit. Bei der jeweiligen Bearbeitung eines schmalen senkrechten Streifens hat die Künstlerin den Stift zu unterschiedlicher Verdichtung geführt und somit verschiedene Grau- und Schwarzwerte erzielt, deren Übergänge denen von Wasserfarben ähnlich sind. Besonders am unteren und oberen Bildrand, zu dem sie sich tausende Male bücken oder recken musste, zeigt sich die Dynamik des Entstehungsprozesses, denn hier sind einzelne Striche und Schläge unterschiedlicher Länge besonders gut zu erkennen. 

Die Künstlerin scheut nicht die schier endlose, beinahe monotone künstlerische Betätigung über lange Zeiträume und geht auch körperlich an die eigene Grenzen: in der Ausdehnung ihrer Arme, im Strecken und beim in die Hocke gehen. Leiblich nimmt sie von der Fläche Besitz – vornehmlich Baumwollstoff, da Papier der physischen Bearbeitung und „Traktierung“ nicht lange standhält – und wiederholt die Bewegung bis die einzelne Linie kaum mehr auszumachen ist. In der Wahl des harten 6H-Bleistiftes entscheidet sie sich für den größtmöglichen Widerstand, der durch die Struktur des Untergrundes zusätzlich gesteigert wird. Dabei spürt Beatrix Opolka ihre eigene Körperlichkeit in einer zusätzlichen Dimension, der sie sich mit Kraft und Ausdauer hingibt. Charakteristisch für ihre Arbeit ist die Aufnahme einer bestimmten Bewegung, die sich im Folgenden einschleift, sich automatisiert und die Künstlerin letztendlich beinahe wie in Trance führt: Sie wird „zeichnen gemacht“, es zeichnet aus ihr heraus. In einem Automatismus gefangen macht der Körper die richtigen Bewegungen und führt die Zeichnung zum Ende: Ein Abschluss, der oft viele Monate und mehrere hundert Bleistifte auf sich warten lässt, dann aber ohne notwendige Korrekturen eintrifft. 

Nach der bewussten Setzung der ersten Linie lenkt das Bewegungsmuster die Künstlerin. Angesichts der Formate ist sie aber nicht in der Lage, das Gesamtbild zu überblicken, sie muss sich auf ihr Körpergefühl verlassen. Während des Zeichnens ist zumeist der größte Zeit des Bildes eingerollt, ähnlich wie bei einer Blindzeichnung bewegt sie sich vor der Fläche und schlägt den Stift. Durch die zuweilen extreme Nähe zu diesem Gegenüber kann die Künstlerin zwar jedes Detail des Stoffes sehen, doch der Blick auf das Ganze bleibt ihr verborgen.

Noch extremer ist dieses Phänomen bei den vier im Jahre 2005 entstandenen Zeichnungen, die um Litfaßsäulen gespannt sind. Anstatt auf einer planen Fläche zu arbeiten, steht sie nun einem massiven Volumen, einem die Sicht verstellenden Körper, gegenüber. Während die Künstlerin mit der rechten Hand zeichnet, kann sie weder das Gezeichnete noch den Bereich links ihres Körpers überblicken, es handelt sich jedoch nicht um ècriture automatique. Bei der Arbeit an „Litfaßsäule III (Herumgehen), 2005“ musste Beatrix Opolka die Säule zum Beispiel auf engstem Raum Meter um Meter im Abstand einer Bleistiftlänge umrunden. Dabei konnte sie sich nur auf das Gefühl eines gleich bleibenden Widerstandes verlassen, ihn erspüren und beibehalten; gesehen hat sie ihr Werk erst aus der Distanz.

Die Künstlerin läuft immer wieder die lange Distanz der Leinwand ab, bückt sich springt hoch, schwingt die Arme, reckt sich oder endet konzentriert in einem Punkt, von dem aus die Bewegung erneut ihren Anfang nimmt („Große Schleife“, 2000) Erst nach unzähligen Wiederholungen offenbart sich die eigentliche Form, schwingt sich die Bewegung in den Körper und lenkt ihn in immer gleichem Rhythmus, einem exzessiven Ritual oder Tanz vergleichbar. Dann verbindet sich der Grafit mit dem Stoff, die Linien verschmelzen und lassen Einreibungen auf dem Tuch entstehen.

Der „Aufwand“, sowohl zeitlich als auch was den Einsatz körperlicher Ressourcen angeht, befindet sich stets in einem unausgewogenen Verhältnis. Bei näherer Betrachtung der Arbeitsweise dieser exzessiven Ausnahme-Künstlerin wird deutlich, dass nur wenige Zeichnungen pro Jahr das Atelier verlassen können. Erfrischend und konsequent erscheint deshalb die andere Position ihres Werkes, die sich in Form von Aktionen und Videos manifestiert und häufig mit Witz und einem Blick aus ironischer Distanz gepaart ist. Doch auch in diesen Werken geht es um dynamische Prozesse und großformatige Bewegungen, die nur auf anderem Weg oder in einem anderen Medium ihren Ausdruck finden. 

Villa Zander 2.0
Mit viel Hintersinn hat Beatrix Opolka Ziffern, die sie als weiteres, der Zeichnung gleichwertiges grafisches Element betrachtet an den Decken der einzelnen Räume angebracht. 

Ausgangspunkt für diese humorvolle Note ihrer Ausstellung war ein Grundriss der Städtischen Galerie Villa Zanders, den  die Künstlerin zu besseren Vorbereitung der Ausstellung erhalten hatte. In dieser Fotokopie eines handgezeichneten Planes aus vordigitaler Zeit waren die Nummern aus dem Beleuchtungs- und Alarmplan verzeichnet: Jeder Raum hat eine Nummer, beginnend mit der Ziffer 2 für die 2. Etage.

Mit diesem Plan hat sie sich aufgemacht, die Ausstellung zu gestalten; hat sich über den Plan gebeugt und eine große Freiheit und Offenheit für die verschiedenartigen Möglichkeiten empfunden. 

Beatrix Opolka hat diesen flächigen Grundriss im Atelier in ein dreidimensionales Kartonmodell überführt und die Ausstellung mit Miniaturen ihrer Werke vorgeplant. Im Modell ließen sich ihre großformatigen Arbeiten beliebig hin und her schieben, letztlich entschied sie sich bei der endgültigen Hängung und Präsentation für eine unter vielen Möglichkeiten: Villa Zanders 2.0. Mit der Anbringung der Ziffern an der Decke hat sie ihr dreidimensionales Modell in die Fläche rücküberführt. 

Auch hier schwingt das Moment der Bewegung mit: Planen ist ein Zustand der Bewegung, ein bewegender Zustand. Ein Hin- und Herschwingen zwischen den einzelnen Werken und dem Raum, dem flächigen Plan und dem realen Raum, ein Wechselspiel zwischen Idee und Umsetzung. Die Ziffern in den Ausstellungsräumen spielen auf diesen Zustand des Planens an und halten die Offenheit für weitere Möglichkeiten und Ideen lebendig.

Akt: Die Treppe herunterfallend. Gestatten: Beatrix Opolka

Früh war der Künstlerin bewusst, dass es neben der Bleistiftzeichnung nur ein noch direkteres Medium für sie geben könnte: die Performance.

In verschiedenen Aktionen hat sie mit dem Moment des Widerstandes und dessen Überwindung gearbeitet und dieses in eine künstlerische Arbeit überführt. Ähnlich „Persönliche Einladung, 2009“ (zur Ausstellung im Kunstverein der Grafschaft Bentheim) hat Beatrix Opolka auch für die Ausstellung in der Städtischen Galerie Villa Zanders eine ortsbezogene Videoarbeit erstellt, für die sie die dominante Treppe zum Erdgeschoss auswählte. In der Performance „Akt: Die Treppe herunterfallend. Gestatten: Beatrix Opolka“ – hier natürlich ironisch auf den Klassiker von Marcel Duchamp Bezug nehmend – nutzt sie sich selbst und ihren Körper als Medium. Von der geschlossenen Treppenabsperrung stürzt sie langsam auf der Architektur dominierende Treppe herunter und windet sich Stufe für Stufe herab. Der Betrachter kann die Überwindung zu dieser Aktion, die Konzentration und Entrücktheit der Künstlerin im Video nachvollziehen und sie zu ihren anderen Werken in Beziehung setzen: Beatrix Opolka macht sich -  im Sinne des Wortes – auf den Weg.

Die stürzend-fallend-rutschende Bewegung wird durch die dazugehörigen Geräusche sowie das Treppenknarren und –knacken unterstrichen. In der verlangsamten Wiedergabe des Videos erfährt diese Dramatik besonders akustisch eine weitere Steigerung. Und ganz unerwartet springt die Künstlerin am Treppenabsatz auf und macht sich davon: „Gestatten: Beatrix Opolka.“


Beatrix Opolka
Kunstverein Grafschaft Bentheim 2009
Gudrun Thiessen-Schneider

Die Flucht des Zeichners aus der Begrenzung

Zeichnen, zeichnen und zeichnen. Hunderte von Bleistiften, pfundweise Späne...Dem Resultat nur mit dem Auge zu folgen genügt nicht, um zu verstehen, wie das großformatige Schwingen, Sich-Drängeln, Verdichten und Weiten der unzähligen Bleistiftspuren entstanden ist, es müssen auch noch die Füße hinzugenommen werden. 

Und es sind nicht nur Kinder, die in der Ausstellung auch ihre Körper beim betrachtenden Entdecken der Zeichnungen einsetzen, indem sie sich emporstrecken, entlang und drumherum gehen und zurückkehren. Des Rätsels Lösung seinen sie nur auf diese Weise näher zu kommen – und so wird ein Kontrakt mit dem Zeichner geschlossen.

Um zu ihrer Ausstellung persönlich einzuladen, ging Beatrix Opolka mit einem Megaphon durch die Straßen der Stadt. Am Tag darauf folgten ihr nicht nur neugierige Kinder in den Kunstverein, wo sich die Faszination fortsetzte.

Jannis Kounellis soll gesagt haben: „Der Vorgang des Malens fand statt, während ich sang. Ich sang meine Bilder“. Beatrix Opolka tanzt ihre Bilder – so vollführe sie in der Abgeschiedenheit ihres Ateliers eine beschwörende Performance vor den zu bearbeitenden Leinwänden. Die Hand der Zeichnerin reicht nicht aus, der Körper muß sie verlängern, indem die Künstlerin tanzt, läuft und springt – und das mit der disziplinierten Konzentration und Kraft einer Balletttänzerin, deren exakter Beherrschung von Bewegungsabläufen die Bleistiftspuren nun folgen müssen.

Der Körper wird zum Referenzmodell von Kunst, die Zeichnung entflieht ihrer traditionell zugeschriebenen Begrenzung, wird Raum und Skulptur zugleich.

In ihrem Werk verbindet Beatrix Opolka Performance, Video und Zeichnung. So setzt sie die Flucht des Zeichners aus der Begrenzung fort und bleibt der Zeichnung in all ihrer Gesetzmäßigkeiten dennoch verhaftet.

Im vorliegenden Katalog ist ihre erste große institutionelle Einzelausstellung dokumentiert und durch weiteres Bildmaterial ergänzt. Die Anordnung der Ausstellungsansichten entspricht dabei einem Gang durch die Räume des Kunstvereins. 

Es hat mir eine außerordentliche Freude bereitet, mit Beatrix Opolka  diese Präsentation zu erarbeiten und ihren ersten Katalog zu ermöglichen. Damit erfüllte sich der Wunsch, neue Formen der zeitgenössischen Zeichnung präsentieren und dokumentieren zu können.

Wir danken der Künstlerin für das Wagnis ihres großes Solos, das ihr gelungen ist! Ebenso bedanken wir uns bei Werner Hillmann – dem brillanten Interpreten und Kenner des Opolkaschen Werks für seinen Textbeitrag, bei Thomas Oppelt, der mich auf Beatrix Opolka aufmerksam machte, bei Helmut Claus für die fotografische Begleitung sowie bei den ehrenamtlichen Helfern, allem voran Achim Pape.


Werner Hillmann
Galerie Der Spiegel, Köln
Auszug aus der Eröffnungsrede vom 17. Mai 2009
Kunstverein Grafschaft Bentheim

Ich hatte das große Glück, den Entstehungsprozess des Werkes von Beatrix Opolka über zehn Jahre aus nächster Nähe mitverfolgen zu können, mitzuerleben. So verhehle ich nicht eine gewisse Befangenheit in meinem Urteil, das aber durch die authentische unmittelbare Erfahrung über diesen langen Zeitraum hinweg wohl gut begründet ist. Zehn Jahre sind eine lange Strecke im Wirken eines Künstlers, und was wir hier sehen, kann man ohne Umschweife als Retrospektive bezeichnen, ohne uns lange an diesem Begriff zu reiben, den man üblicherweise mit anderen, meist musealen Anlässen in Verbindung bringt. 

Tatsächlich werden wir hier im Kunstverein Grafschaft Bentheim in Neuenhaus konfrontiert mit repräsentativen Werken der Künstlerin:

1. aus ihren letzten Braunschweiger Akademiejahren 1998-2000, Beispielen aus der Werkgruppe der Großen 6H- Bleistiftzeichnungen auf Leinwand,

2. Beispielen und Fortsetzung dieses Themas aus den Kölner Jahren 2000 bis 2009; dazu dann Werke, die mit der Zeichnung verwandt sind, für die Beatrix Opolka aber formal andere Wege und Medien gefunden hat. 

Was dieses Werk der letzten Dekade hauptsächlich charakterisiert, ist die unvergleichliche Annahme der Künstlerin einer einzigartigen Herausforderung. Einer Herausforderung, der sie sich, sagen wir es so, mit ihrem Körper und Geist stellt. Das klingt nach einer Platitude -  bis wir dann vor einer dieser großformatigen Leinwände stehen, auf der wir mit einem Mal diese energetischen
Linienkonstellationen sehen, diese mit höchster Disziplin ausgeführten Bewegungen der zeichnenden Hand, vom Rhythmus des Körpers geleitet, der einem scheinbar imaginären Bild, ihrem Inneren Bild, auf der Leinwand folgt.

In der Tat folgt Beatrix Opolka  einem Inneren Bild bei jeder ihrer Zeichnungen, und sie folgt dessen Impuls, sie beginnt, es umzusetzen, um es, nach Monaten schließlich, zu vollenden. Es gibt ein Reservoir, einen Fundus solcher Inneren Bilder, über die Beatrix Opolka verfügt oder verfügen könnte. Manche ruhen über Jahre unter der Oberfläche, andere drängen sich mit einem Mal auf, wollen sofort „in Angriff“ genommen werden. 

Hélas: Hier steht die Zeit entgegen. Und hier nur zwei kurze Anmerkungen zu zwei wesentlichen Grundzügen jener Werke (der Großen Zeichnungen) Beatrix Opolkas: Da ist einmal das, was eingangs bereits vage und abstrakt angeklungen ist: das Moment des Sich-der-Herausforderung-Stellens, Widerständen zu begegnen. Die physische Herausforderung – jetzt einmal technisch – formal betrachtet -, mit einem 6H-Bleistift (also des härtesten Grades): eine Linie auf der rauen Leinwand zu ziehen über viele Meter und diese Linie, am anderen Ende angekommen, wieder zurückverfolgen auf  demselben Weg und wieder zurück und noch einmal – damit diese Linie überhaupt sichtbar wird – und: diese Repetitionen als notweniges Übels einem Konzept zu unterwerfen, das im schlussendlich geglückten Fall eine stimmige gradlinige oder je nach dem so geschwungene Struktur nachvollziehbar erscheinen läßt. Dieses Procedere vor der/an der Leinwand kostet Kraft, zermürbt den Körper und den Geist und den Willen, nach vier, fünf, sechs Stunden vis à vis der Leinwand, die das Kratzen und Ziehen der harten Bleistiftspitze unerbittlich wiedergibt, Tag für Tag, Woche um Woche, über Monate hinweg. 

So ergibt sich zwangsläufig der zweite Aspekt: die Ökonomie der Zeit. Ein Werk, das auf diese Weise entsteht, kann nicht reich sein an der Zahl der Einzelwerke: 
Eine Zeichnung= ein halbes Jahr – das ist sehr unökonomisch für einen Künstler, dem die Zeit davonläuft, wenn er vom Verkauf seiner Werke leben sollte, und der gleichzeitig auch noch andere Projekte verfolgt.

In meiner nur angedeuteten Darstellung des Entstehungsprozesses liegt eine gewisse Gefahr eines Missverständnisses, das ich hier ein für alle Mal aus allen Köpfen vertreiben will: Der eigene sinnliche Nachvollzug dieses Prozesses erweckt die Vorstellung, dass dieser einer Performance, einer getanzten Choreographie entspricht! Ja und nein. Darüber ließen sich viele Seiten schreiben. Entscheidend ist aber für Beatrix Opolka, dass die körperliche Umsetzung, die so gut wie ertanzte, erschlagene Umsetzung ihres Inneren Bildes auf die Leinwand für immer hinter das endgültige fertige Resultat – die Zeichnung selbst auf der Leinwand – zurücktreten muß, nur unabdingbares Mittel zum Zweck ist. Die Aktion hinter der Leinwand verblaßt. (Siehe Photo: Atelierwand HBK Braunschweig kurz nach Abnahme einer nach mehreren Monaten beendeten Zeichnung; durchgetriebene Graphitspuren, die von der Heftigkeit des Zeichnungs-Aktes zeugen, bleiben im Verborgenen und werden sofort übertüncht.) Also bitte: keine Effekthascherei, keine „Ich-war-dabei“- Sessions, keine Ablenkungen vom Eigentlichen!
Werfen wir einen Blick auf einige ausgestellte Werke:

Kaltnadelradierung

Hier im Kunstverein Grafschaft Bentheim wird nur eine von insgesamt drei türgroßen Radierungen beispielhaft gezeigt. Die für dieses graphische Medium ungewöhnlichen großen Formate entstanden noch in der Braunschweiger Akademie. Die Widerständigkeit des zu bearbeitenden Objekts unter anderen extremen Bedingungen mit der subtilen Subjektivität der Künstlerin als Herausforderung anzunehmen – das hatte Beatrix Opolka gereizt. Also: Diese übergroßen Kaltnadelradierungen zeugen von einer äußerst präzisen mentalen und mechanischen Umsetzung ihrer Bildvorstellung – vermittels Körper und Geist. Zittern, Zagen, Zähneklappern, Mut, Kraft, Kalkül, Disziplin. Vielleicht gab es einen Probeandruck von jeder Platte  - jedenfalls existiert von diesen Radierungen nur je ein Abdruck. Das ist symptomatisch für Beatrix Opolkas Haltung: Es kam ihr auf die experimentelle Erfahrung des Machens, der geglückten Überwindung des Widerstands an. Der Gedanke an einer Auflage zur späteren kommerziellen Verwertung lag ihr fern.

Aether

Noch während ihrer Arbeit an den großen 6H-Zeichnungen steht ihr Entschluss fest, sich auf das entgegengesetzte Terrain zu begeben: mit dem möglich weichsten Bleistift, der bereits beim Aufsetzen der Spitze einen erkennbaren satten Abdruck hinterlässt. Auch ist der Künstlerin klar, dass sie Neuland betreten wird, weil ihre Methode sich den gegebenen Materialien – widerspenstiger Untergrund und unmittelbar sichtbarer Abrieb – anpassen muß: zügiges Hintereinander und Übereinander, Verdichtung und Auslichtung von Flächen, die diesmal allesamt all over eine von einzelnen Linien befreite Struktur ergeben werden, in einem kontrollierten negativen Stroboskop-Gewitter schwarzer und schwärzester Entladungen enden müssen. Auch gestisch ein Kontrapunkt zu der kontrollierten Linienführung der Hand im System der geschwungenen Filiaturen: die Nacht

Gehen wir weiter in Beatrix Opolkas zeichnerische Werk, zu den

Litfaßsäulen

die in bestimmter Weise eine Grenze methodisch neu überschreiten und eine besondere Herausforderung für Beatrix Opolka darstellten.
Das Procedere des Zeichnens eines Inneren Bildes auf dem vorgegebenen Maß der begrenzten Fläche; also der nun rundum nicht in ihrer Totalität zu erfassenden einheitlichen Entwicklung der Zeichnung – außerhalb also ihrer Kontrolle – das ist wichtig: Nicht den Anfang zu sehen, an den sich das Ende anschließt, auf das sie hinzuarbeitet! Der Akt des Zeichnens ist hier ein blindes Vertrauen auf ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten, sozusagen Vermählung von Körper und Geist, sozusagen ein Blind-Zeichnen.

Einmal um den Block

Einmal weicht Beatrix Opolka ab von dem Inneren Bild (und aus in eine Doppelstrategie), jenem Bild, das irgendwann in ihr entsteht und umgesetzt werden will. Ich spreche hier von dem kurzen Film „Einmal um den Block“, der in einzigartiger Weise ihre innere Haltung  und in der Durchführung des Projekts auch gleichzeitig ihre äußere, also körperliche Haltung dokumentiert. „Einmal um den Block“ verdankt sich dem konzeptuellen Ansatz, in dem sie das Thema des widerständigen Zeichnens als Dokumentation aufgreift. Seit ihren frühen Kölner Tagen wollte Beatrix Opolka ihr Wohnviertel umzeichnen, natürlich folgerichtig mit dem 6H-Bleistift. Eine aberwitzige Idee, die sie tatsächlich umsetzt, eines Sonntags im Winter.
Mit einem Bündel gespitzter Bleistifte in der Hand verlässt sie ihren Hauseingang, tritt auf den Bürgersteig, bückt sich und beginnt, auf dem harten Untergrund der Beton-Fußwegplatten „ihre Linie“. Meter für Meter, vorbei an den Häusern, die Straße überquerend, vorbei an Hindernissen, zwischendurch Pausen einlegend, auch um Bleistifte auszutauschen. Eine einzige Plage, in gebückter Haltung! Die Künstlerin verlangt alles ab von ihrem Körper und ihrem Willen, bis sie schließlich angekommen ist: Die Linie ist an ihrem Ziel, am Ausgangspunkt: der Haustür. Schlußpunkt. Der kurze Film, der diese Aktion dokumentiert, ist weniger wichtig als der unmittelbare Akt des Zeichnens, auf den sich Beatrix Opolka eingelassen hat. Als Film ist er „nur“ Dokument zu ihrer eigenen Definition des Wohnblocks.

Bodak

ist die zeichnerische Umsetzung einer Auswahl von Schwarzweiß-Photographien, die viel über den spezifischen Blick Beatrix Opolkas auf alltägliche Situationen, auf Hell-Dunkel-, auf Licht-Schatten-Phänomene wirft. Für BODAK bereitete sie einen Leinwandstreifen mittels einer Sperrholz-Schablone vor, die sie, einem übergroßen Fotonegativ nachempfunden, sozusagen als Pochoir Platte  auf die Leinwand legte, für jedes Segment der jeweiligen Zeichnung, die übrigens auf tatsächlich vorgegebenen Film-Negative zurückgehen. BODAK ist ein anders graphisches Stilmittel, wie auch

Wie man den Vögeln das Alphabet beibringt

Vermittels einer festgelegten Anordnung von Schwarzweiß-Kopien erschafft Beatrix Opolka hier das hypothetische, pseudo-wissenschaftliche Ordnungsschema einer Handlungsanweisung, die in zauberhafte Poesie übergeht.
(„Die Vögel singen mit den Findern“ – Cocteau)

Abspann

erfüllt als Video ähnliche formale Kriterien, die Beatrix Opolkas zeichnerischem Werk zugrunde liegen und sollte insofern nicht überraschen. Schnelle und verzögerte Schnittsequenzen, Rhythmen, die ausschließlich Verwendung von Schwarzweiß (in der Typographie) erscheinen und verschwinden, wie gefilmte formale Kommentare zum Duktus, in dem die „Große Zeichnungen“ entstanden sind.
Anders aber als in diesen steht hier jede einzelne je eigens gestaltete Botschaft für sich, zusammengefasst in einer Aneinanderreihung von Parolen, Appellen, Ordern, die für Un-Orte verfasst sind und ein Unwohlsein erzeugen, nicht nur am Ort ihrer Präsentation, sondern am alltäglichen urbanen Umfeld, aus dem sie herzitiert werden.„Abspann“ ist die zweite öffentlich gemachte Video-Arbeit Beatrix Opolkas. Sehr bald werden Sie zu Protagonisten und Zuschauern eines dritten Film-Werks der Künstlerin.

Persönliche Einladung

Einen Tag vor Eröffnung dieser Ausstellung zog Beatrix Opolka los, ausgehend vom Kunstverein Grafschaft Bentheim, in ihrer Linken eine Glocke, wie man sie aus früheren Tagen von den Lumpen-oder Alteisenhändlern, den geduldeten Hausierern und dem motorisierten Eismann her noch kennt; und in ihrer Rechten ein Megaphon.

So ausgestattet, zog sie durch den Ort und verkündete ihre eigene Ausstellung anderntags. Und sie ging noch weiter: Sie zog durch die Straßen, um an den Haustüren der Bürger zu klingeln, um ihre Einladungskarte zu verteilen, mit „persönlicher“ Ansprache. Radikale konsequente Schritte einer Künstlerin, die den Weg weitergeht, den sie für sich gewählt hat. Quel Courage!

Bon Courage, Beatrix Opolka! Und: Chapeau!


Inside Out
In den Straßen von Braunschweig
Stefanie Klode

Für ihre großformatigen Zeichnungen setzt Beatrix Opolka gezielt den 6H Bleistift ein. Dieser Härtegrad lässt kein schnelles Resultat zu. Die Arbeit entsteht durch ein langes Kontinuum der „Be-schreibung“ und des Ablaufs. Die grobe Oberfläche des Baumwollstoffs setzt dem harten Bleistift einen Widerstand entgegen, der einen einfachen Ablauf des Zeichnens erschwert.

Sie „durchtanzt“  viele schnelle innere alternierende Bilder über mehrere Stunden und erreicht gleichzeitig ein höchstes Maß an Automatismus wie an  Konzentration; der Atem gibt dabei den Takt an. Bei diesem Vorgang ist der ganze Körper in Aktion.

In diesem Umfeld entstehen Werke, die sich auf den ersten Blick methodisch von den großen Zeichnungen entfernt zu haben scheinen, letztendlich aber einem gemeinsamen Impetus folgen, der ein anders gestaltetes Schaffen verlangt: in der Zeit, in den Materialien, in den Dimensionen.


Architektur Forum
Plan08, Köln
Sabine Foggenreiter, Kai von Keitz

Einmal um den Block und Abspann

Beatrix Opolka umzeichnet in ihrem Kurzfilm  „Einmal um den Block“ mit dem 6H- Bleistift 
auf dem Gehweg ihr Wohnviertel und stellt sich der Frage nach dem eigenen Standpunkt und einer nötigen Abgrenzung.

Das Kratzen eines Bleistifts auf dem Gehweg, Beatrix Opolka zieht in gebückter Haltung eine Linie auf dem Boden. In dem zwölfminütigen Video „Einmal um den Block“ umzeichnet sie mit einem Bleistift des Härtegrades 6H – so hart also, dass er auf Papier kaum Abrieb hinterlässt – ihren Wohnblock am Kölner Rathenauplatz. Wege und Grenzen in der Stadt werden zu einer Zeichnung im Maßstab 1:1, Bleistift auf 500 Meter Gehwegplatten, und sind für Opolka verbunden mit entsprechenden physischen Erfahrungen. Der Videobetrachter sieht und hört die Dokumentation einer Performance, die wie eine gestische Metapher für das Erfassen des nächstgrösseren Raums jenseits der Wohnung erscheint. Sie ist am meetingpoint zu sehen.

Die am Rudolfplatz gezeigte Videoinstallation Abspann hat Opolka für urbane „Unorte“, für missratene, ungeklärte oder von Brüchen geprägte Situationen im Stadtraum kreiert: Mehrere aufeinanderfolgende „Filmabspanne“, vertikal oder horizontal mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unterschiedlichen Schriftgrößen und Rhythmen, die schroffe Hinweise und Anweisungen ohne erkennbare Bezug ergeben. Ein provozierender Tonfall, in filmästhetischer  Glätte präsentiert, der „beunruhigen“ soll – das Bild der Stadt und die Menschen, die sich in ihr bewegen: „Trauen Sie Ihren Augen nicht!“


Open office, collected concepts
Galerie M 29, Köln

STILLE POST

Der Aberwitz einer solchen Situation:

Eine historische Institution wie die bis heute noch funktionierende alpine „Rigibahn“, die anscheinend nur eine Leistung zu vollbringen hat: Uns von unten nach oben zu  transportieren; mit dem Schönen, je nach Auffassungsgabe und Neugier und Wachheit ihrer Benutzer für das Außerhalb, das während des Transports sich stetig mehr oder weniger dramatisch verändert, oder gar nicht, uns vorbeiläufig unterhält oder aufhält in der eigenen Zeit- und entsprechend uns wieder zu Tal befördert: 

Übertragen wir dieses Phänomen der visuellen auf die Ebene der akustischen Wahrnehmung: Dann können wir auch hier von einer jeweils anderen, individuellen Wahrnehmung ausgehen. Es gibt immer eine je anders geartete Intensität des Gehörten, die im Extremfall mit dem totalem Verlust der Botschaft oder Teilen von ihr auf dem Weg zwischen Sender und Empfänger einhergeht. Was wir alle im Spiel der STILLEN POST nachvollziehen können: Dass sich die Botschaften eines Senders aufgrund der Nachrichtenfülle oder Redundanz oder der Übermittlungsgradation zum Unverständlichen oder kaum Wahrnehmbaren oder Diffusen so zum Empfänger hin entwickeln, dass jener eine vermeintlich eindeutige Botschaft verändert weitergibt. 

Konstruieren wir eine Situation, in der Sender und Empfänger identisch sind, sowohl  im mythologischen (die Nymphe Echo*) wie auch im physikalisch- technischen Bereich (das Echolot): Beide wecken Emotionen, die ein tragisches, ja gar katastrophales Moment einer jeweiligen Situation erlebbar machen. So stoßen Rhythmus und Klang (so zweideutig verführerisch, sirenenhaft ihr Faszinosum ist, Bangen und Sehnen fallen zusammen) nicht ins Leere, sondern werden im schlimmsten Fall auf das solitäre Ich zurückgeworfen. Das Immergleiche in der Wiederholung und die Permanenz einer sich steigenden Erwartungshaltung konkretisieren sich im Ton genauso wie in der einfachen Handhabung der Kurbel der Modellbahn: Eine tragische Geste.
 
„Meine Rigibahn“ verweist auf die Nymphe Echo. Ihr Platz in der Gondel ist verwaist. Einziges Zeugnis ihrer Anwesenheit zwischen Himmel und Erde, Sender und Empfänger, sind die wahrnehmbaren Wellen des Lichtes und des Schalls.  

* Echo (Gr. M.) eine Oreade, d. h. Berg-Nymphe, die anmutigste Plauderin. Und Jupiter, dem starken Gotte, sehr gewogen, was sie dadurch bekundete, dass sie Juno oft, wenn sie den Gatten bei den Nymphen belauschen wollte, durch ihr Geschwätz aufhielt, bis die Nymphen entronnen waren. Endlich merkte Juno die List und verbannte nicht nur das freundliche Wesen aus ihrer Nähe, sondern nahm ihr auch die Sprache, bis auf die letzten Worte, welche, sie dem sie Anredenden wiederholen durfte. Nun floh die sonst so gesellige Nymphe alle früheren Gespielen, und verbarg sich im Schatten der Wälder, bis Narcissus ihre Liebe weckte; doch der schöne eitle Jüngling verschmähte sie, und sie verzehrte sich vor Gram, bis nichts von ihr übrig blieb, als die Stimme; ... (aus: Vollmer, Wörterbuch der Mythologie 1874, Neuauflage Leipzig 1978)

Einrichtung:
Installation der Rigi-Modellbahn von Balkon/Geländer zu Verlag/Feuerleiter und retour. 
Auf dem Balkon Tonträger mit Echolot und Tonträger mit Flüsterstimme (per Kopfhörer,  Mythologie/Echo).
Blaulicht- Modul in der Gondel ab Dämmerung.
Plakat
Köln im Februar 2006
©Beatrix Opolka


Albrecht Fabri
Aus: Spiegelschrift 11 
Verlag Galerie Der Spiegel
Köln 1971
SICH SPIEGELN
Echo: das ist auch ein bißchen die Geschichte des Narziß in unerwiderter Liebe zu dem sich Nymphe Echo so verzehrte, daß nur mehr ihre Stimme übrigblieb. Dabei hätten Narziß und Echo so gut zueinander gepaßt! Das heißt, eben weil sie so gut zueinander gepaßt hätten, hätten sie wiederum gar nicht zueinander gepaßt: Narziß, über den Spiegel seiner Quelle gebeugt und gleichermaßen außerstande, sich zu finden wie sich zu verlieren, ist im schlimmsten Sinn fixiert; eben das aber ist auch Echo, der die eifersüchtige Hera so die Sprache beschnitten hatte, daß Echo nur noch wiederholen konnte, was sie gerade hörte. Die personifizierte Verschiebung also der optischen Spiegelung in die akustische; nur daß Spiegeln nun einmal nicht genügt zum Spiegeln.
Eine Melodie spiegelt sich in der, die sie kontrapuntiert. Narziß will SICH; aber wo, wenn Narziß als Exzentrik angelegt ist, für den der Identitätssatz nicht gilt, erfüllte sich dieses SICH? Trinkt Narziß aus der Quelle, zerstört er sein Bild; kommt hinzu, daß das Bild, das sie ihm zurückwirft, ein Bild ist sowohl ohne Tiefe wie Zukunft. Um wirklich zu sich zu kommen jedenfalls müßte Narziß über Narziß die Achseln zucken; er müßte Ernst machen mit der Ungleichung zwischen ihm und ihm; er müßte aufhören, naiv zu sein und sich mit Narziß zu verwechseln; er müßte lernen, sich, eher als in sich selber, in einem auf dem Wasser treibenden Blatt, einem ins Schilf einfallenden Vogel, einer auf den Boden aufschlagenden Frucht wiederzuerkennen...Ein deutlicher Hinweis übrigens darauf, daß der Künstler kein Narziß ist.
Nicht eben leicht zwar, das Verhältnis zwischen Künstler und Werk zu beschreiben, da dieses Verhältnis aller gewohnten Logik widerspricht. Oder wäre man bereit, Wirkungen zuzugeben, die ihre Ursache derart übertreffen, daß, von der Wirkung auf ihre mutmaßliche Ursache zurückschließend, man mit Sicherheit der Mythologie verfällt, das heißt eine total imaginäre Ursache ansetzt? Halt zweierlei, der Künstler als Produzent und der Künstler als Produkt seines Werks! Als jener ist er entweder Präteritum oder Futur; als dieser ist er zwar Präsens, aber nicht mehr als der vom Werk geworfene Schatten: der nämlich, den wir, als zu ihm fähig, zum Werk hinzuerfinden und der sich zu dem, der es tatsächlich gemacht hat, als dessen Übertreibung, Parodie, Negation verhält: ein Monstrum an Logik, Promptheit und Luzidität...Aber in eben diesem Monstrum erkennt der Künstler sich wieder.
Siehe die Fabel vom Pygmalion, der auf die Venus, die er gleichwohl selber gemacht hatte, so hereinfiel, daß er sich in sie verliebte. Der fortgeschrittene Narziß gleichsam, der Narziß nicht mehr von Narziß erwartet, sondern von dessen Verwandlung. Wozu ja auch sonst Gedichte schreiben und Bilder malen? Wenn das Kunstwerk den Künstler nur- wie man sagt- ausdrückte, wäre es eine ebenso ärgerliche wie nichtsnutzige Form von Moulage. Es drückt ihn aber aus, nicht als Person, sondern als Utopie. Es sammelt ihn in einer Art von positivem Zerrspiegel; es transformiert ihn in etwas, das er selber keineswegs schon ist. Siehe noch einmal die Fabel vom Pygmalion, deren Überschrift eigentlich heißen müßte: Wie Provokation in Provokation umschlägt: die Provokation nämlich des Künstlers als Subjekt in die Provokation des Künstlers als Objekt...Zum guten Schluß heiratet Narziß Dame Echo eben doch.

Achim Pape
DER MANGEL ALS QUELLE - EIN GEDANKE ZUR KOMMUNIKATION

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Grundlage ist die menschliche Kommunikation und "Die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren" ist anerkannt. Ebenso vorausgesetzt: Alles Menschliche ist Kommunikation, denn alles was uns Allen im Inneren nach Außen drängt - der Wunsch danach ein Brötchen zu kaufen, eine Liebe zu gestehen oder der Drang nach Ausdruck dessen was den Künstler, den Dichter oder den Maler, im Innersten bewegt, und das hinaus muss, um dann Kunst werden zu können - ist Mitteilung und erwartete Erwiderung. Dem steht das Klagen entgegen, welches sich um die Mängel der Kommunikation erhebt. Ja, wir müssen uns Mühen um die Interpretationen und Auslegungen und die Nutzung und den Gebrauch der Sprache und dann über die Folgen unseres Handelns, dem Missbrauch durch die Ideologie usw. Aber was soll das Gejammer über die Mangelhaftigkeit unserer Kommunikation? Empirisch betrachtet hat sie der Menschheit seit 100.000 Jahren für ihre Zwecke ausgereicht. Was anderes als seine Sprache hat der Mensch als hervorstechendes Kulturgut hervorgebracht?
Ihr erst folgten alle Künste. Wodurch unterscheidet der Mensch sich mehr von allen anderen Lebewesen, als durch die Macht seines Ausdrucks, seiner Sprache, die sein Denken und Handeln zugleich ist? Und was hat uns je wirklich gefehlt? Und was wäre nur, wenn es keine Grenzen im Ausdruck und im Verstehen, wenn es keine Mängel geben würde, wenn wir uns alle verstehen würden? Wir hätten zunächst nicht die Gelehrten Bücher - über die Grenzen der Interpretation, die Grenzen der Kommunikation, über die Zwangsläufige Begrenztheit von Verlautbarungen mittels der menschlichen Sprache, und keine Bilder der Kunst, Bilder und Musik und Gesang, und keine Skulpturen, kein Symbolisches und keine Abstraktion, und keine Liebesgedichte, kein Umwerben und Umspielen, kein Ringen nach Worten, kein: Was schrieb ich Dir nur in das Herz / von dem was in dem meinen steht? Celan schrieb einen Liebesbrief: "Ruth, Ruth, Ruth, Ruth: Nun brauchen wir keine Worte mehr." - Ein Dichter im Glück der Wortlosigkeit. Und in der Geschichte und im Glauben - keine Offenbarungen, kein Universalienstreit, keine Bibelübersetzung und Urkundenfälschung, wohl gar - keinen Krieg? Ich sage, sagen wir: Glück! - und jedes Gesicht das diesen Laut vernähme würde in ein Lächeln fallen, selig, lieblich, erlöst. Ich sage: Du und Dich und Liebe - und alles wäre ganz schon ergriffen und meinem Herzen entnommen und offen gelegt und ohne Zweifel mehr. Und sage einer: Leid! - dann weinte alles um ihn her mit ihm und wäre matt im Herzen. Aber wer hätte Trost damit Alle in Einem zu sein? Es ist nicht nur Merkmal der menschlichen Kommunikation das sie zwischen Menschen stattfindet - sie ist die Grundbedingung des Menschseins. Das dabei das individuelle Bedürfnis nach Ausdruck auf die individuelle Fähigkeit des Verstehens trifft, und damit keine spontane Übereinstimmung erzielt werden kann, ist zunächst nur einmal eine Feststellung. Was also ist das eigentliche Problem der Kommunikation? Ist es wirklich das Nicht-Verstehen-Können oder ein Kein - Verständnis haben?
Rilke schreibt einen Brief: "Ich meine, ... , die Zeilen, ... , nicht besser und auch nicht genauer beantworten zu können, als in dem ich ihnen versichere, wie sehr ich den Impuls verstehe, aus dem sie hervorgegangen sind." - Wie bedeutend ist es zumindest zu erahnen, was den anderen zu seinen Äußerungen bewegt. Was mehr als die Mühe die es bereitet das Verständnis aufzubringen? Denn im Grunde ist es mit dem Ausdruck so wie mit allen anderen Tätigkeiten. Man muss etwas tun um ihn zu erreichen und man muss etwas tun um ihn für sich zu gewinnen.
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Wie nur wäre es mit Echo und Narkissos, hätte er sie, ob ihres rudimentären Gestammels, in die Arme geschlossen? Sie hätte Trost gefunden an ihm und er wäre vor seiner Selbstversunkenheit errettet. Aber es war nicht so. Und hierin ist kein Makel an der Kommunikation. Es ist ein Fehler in der Einsicht zur Notwendigkeit im Verständnis dessen was das Andere ist. Denn nur in der Art wie wir das Mangelhafte aufgreifen und verstehen zeigt sich unsere eigene Fähigkeit mit der Welt um uns herum zu kommunizieren. Und da ist es nur scheinbar ein Widerspruch, dass gerade die Mangelhaftigkeit unserer Kommunikation die zwangsläufige Grundlage zum Verständnis all dessen bietet das diese Welt hervorzubringen mochte. Denn die Grenze bildet den Gegenstand - Dort wo die Bäume enden beginnt der Himmel. Die Begrenztheit setzt uns Formen, gibt uns einen Anstoß und ein Material mit dem wir uns und in uns schaffen können, entwickeln, herstellen, nutzen. Ein Wort setzt alles in die Welt das zuvor noch nicht da gewesen ist und wenn wir das Wort wiederholen, sprechen wir nicht nur von der einen Sache, vom Selben, sondern erschaffen etwas Neues aus dem Alten, vielleicht nur das Gleiche, aber dennoch etwas zuvor nie gewesenes.
Die Grenzen der Sprache sind überall offenkundig, wo sie uns hinzunehmen schwer fallen, etwa bei Übersetzungen von Betriebsanleitungen asiatischer Elektrogeräte, da müssen wir für die Teilnahme an dem bezahlen was uns so lebensnotwendig ist und dessen Potenzial es ist, uns sowohl in Einsamkeit hinein zu stoßen als uns aus ihr hervorzuretten. Narkissos ist einsam, weil er, nur das liebend was er von sich zu sehen in der Lage ist, kein Mensch sein kann, und damit weder Verständnis noch Trost zu geben in der Lage ist, und das Unglück der Echo, deren Teilnahme an der Ausdruckswelt ihr durch die Beschränkung verwehrt bleibt, ist es das sie nur auf das Verständnis hoffen kann, dass der Hörer ihrer Rufe aufbringen muss. Der Hörer aber muss wissen was es bedeutet, dass ein anderes als das von ihm Gesandte auf ihn zurücktrifft. Es ist nicht die Wiederholung allein, es ist die Wiederholung durch etwas anderes, das, in diesem Fall, den Hörer darin bestätigt ein eigenständiges Selbst zu sein. Sie ist eine aufwändige Sache, die Kommunikation, aber sie ist nicht schwer, weil sie mangelhaft ist, denn darin liegt ihr Potential zur Schöpfung und die Möglichkeit zur Erkenntnis. Sie macht Mühe und bedarf unsere Hingabe und mit der Arbeit an ihr werden wir zu dem was wir sind. Das Andere zu erkennen ist Kommunikation des Seins in und durch sich; sie funktioniert seit Äonen und hat nicht für sich zur Bedingung, dass wir sind, sondern bedingt uns unser Sein. Wir gehen durch die Formen, durch " Ich und wir und Du" (Benn), und wir bilden, unser "gezeichnetes Ich". Was gäbe es sonst - tatsächlich nur die "Leere".

© Achim Pape 2006